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Dr. O. Hoffmann

Ich und freier Wille

Das Ich und der freie Wille ist ein kniffliger Themenkomplex in Philosophie und Wissenschaft, der schon sehr lange diskutiert wird. Gerade die Wissenschaft liefert hier in neuerer Zeit viele relevante Informationen, die ein neues Licht darauf werfen.
Auch erst in der Neuzeit und wohl längst nicht überall gilt die Individualität des Einzelnes als hohes, schützenswertes Gut, als ein relevantes Lebensziel gilt es manchem, sich selbst zu finden oder sich selbst zu verwirklichen, wobei oft nicht einmal geklärt ist, wie man sich verlieren kann oder wie man unwirklich werden kann, daß es einer besonderen Anstrengung bedarf, sozusagen den Normalzustand wieder herzustellen.

Betrachten wir die von der Physik gegebenen Rahmenbedingungen:

Die Allgemeine Relativitätstheorie ist ein klassisches, deterministisches Modell, welches experimentell gut belegt ist, jedenfalls auf großen Skalen, auf kleinen Skalen weiß man natürlich, daß es nicht stimmen kann. Immerhin, Menschen sind makroskopische Objekte - und das Schicksal solcher Objekte gemäß dieses Modells kann als eindeutige Trajektorie durch die Raumzeit aufgefaßt werden. Für Begriffe wie Ich und freier Wille bleibt da kein Platz, es sei denn als Selbsttäuschung, wobei schon dieser Begriff irreführend ist, denn welches Ich sollte sich selbst täuschen?

Die Quantenphysik beschreibt gut belegt, wie es im Kleinen zugeht. Das ist ein nichtdeterministisches Modell, bei dem man sogar prüfbare und geprüfte Meßgrößen hat, um auszuschließen, daß es verborgene Parameter gibt, welche daraus noch ein deterministisches Modell machen könnten. Für ein Einzelereignis lassen sich damit nur Wahrscheinlichkeiten für einen Ausgang eines Experimentes angeben. Erst für viele gleichartige Experimente läßt sich die Verteilung vermessen. Daraus jedenfalls läßt sich nicht schließen, daß etwas aus einem freien Willen heraus geschieht, dann schon eher aus Zufall.

Wie die beiden Modelle zusammenpassen, ist Gegenstand der Forschung. Im Rahmen der Quantenphysik kann man meist die Relativistik per Störungsrechnung ausreichend genau berücksichtigen. Quantenphysik wird in der Relativistik umgedreht relevant, wo es um sehr kleine Dinge geht, also ganz kleine Stücke der Raumzeit. Diese spielen zum einen eine Rolle in schwarzen Löchern und beim sogenannten Urknall. In diesen Bereichen besteht vor allem eine Notwendigkeit, die Modelle miteinander zu vereinen oder miteinander vereinbar zu machen, um diese Phänomene korrekt zu beschreiben. Das sind jedenfalls nicht die Bereiche, die für die Funktionen im Gehirn relevant sind.

Wie funktioniert nun das Gehirn ungefähr aus wissenschaftlicher Sicht? Zunächst einmal gibt es eine starke Interaktion mit der Umgebung. Über verschiedene Kanäle wie Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken nimmt das Gehirn die Außenwelt wahr, verarbeitet diese Information, ordnet sie ein, speichert Erinnerungen ab, teils bewußt, teils unbewußt, teils wird auch wieder vergessen, was abgespeichert wurde. Teils kann die gespeicherte Erinnerung aufgrund der Verarbeitung oder neuer Sinneseindrücke auch nachträglich verändert oder manipuliert werden. Aufgrund der Verarbeitung im Gehirn entsteht eine mehr oder weniger einfache Repräsentation der Umwelt, also letztlich eine Illusion, eine vage Idee von der Welt, in welcher die Person agieren muß. Entscheidungen werden aufgrund dieser Erfahrungen getroffen, wobei es ein starkes Gewicht auf der unbewußten Ebene gibt und gar nicht einmal so viel, was bewußt abläuft. Aufgrund der Entscheidungen agiert eine Person dann mit der oder in der Umwelt. Die Zeit schreitet gleichmäßig voran, das Gehirn hat somit nur wenig Zeit und nur sehr unvollständige Informationen über die Umgebung, um Entscheidungen zu treffen, sehr einfache Modelle sind notwendig, um in Echtzeit zu entscheiden, Routine-Aktionen praktisch automatisch ablaufen zu lassen. Bewußt wäre man meist gar nicht schnell genug, um auf schnelle Ereignisse zu reagieren oder mit dem Körper schnelle Aktionen gezielt durchzuführen.
Bewußte Verarbeitung im Gehirn läuft deutlich langsamer ab, etwa um mathematische, physikalische oder auch philosophische Ideen und Modelle zu entwickeln. Dabei wird gern auch ein weiterer Geniestreich des menschlichen Gehirns angewendet, die Verarbeitung wird zumindest teilweise nach außerhalb des Gehirns verlagert, man schreibt Ideen auf, verarbeitet sie schriftlich, auch um eine Zeiterweiterung zu bekommen, also sicher über längere Zeit einen Gedankengang bearbeiten zu können, nicht nur flüchtig im Gehirn. Schriftlich speichert man auch außerhalb Ideen und Modelle ab und macht sie so zu einer gemeinsamen Verarbeitung durch viele Gehirn zugänglich, entsubjektiviert sie also ein gutes Stück und kommuniziert so auch über recht komplexe Modelle und Ideen mit anderen Gehirnen, erweitert also die eigenen geistigen Möglichkeiten ganz enorm durch Nutzung von Werkzeugen und Zusammenarbeit mit anderen Gehirnen. Das ist der Typ von Bewußtseinserweiterung, welcher dann auch praktisch wirklich funktioniert und mehr Verständnis für die Welt bewirken kann.

Naturwissenschaftliche Grundlage dieser Prozesse im Gehirn ist Chemie, also aus Sicht der Physik die elektromagnetische Wechselwirkung. Die ist sowohl klassisch als auch quantenmechanisch prinzipiell gut verstanden, allein die Komplexität, also die vielen beteiligten Atome machen es notwendig, das an sich gut verstandene Modell so weit zu vereinfachen, daß man überhaupt etwas rechnen kann.

Was man selbst als Ich wahrnimmt, was angeblich mit freiem Willen Entscheidungen trifft, ist offenbar ein dynamischer Prozeß des Gehirns, welches damit zwischen der eigenen Person und der Außenwelt separiert, um die für das eigene Leben notwendigen Aktionen ausführen zu können. Vieles, was man tut, ist einfach Gewohnheit, man entscheidet da nichts bewußt, alles läuft nach einem relativ fixen Schema ab, welches auf früheren Erfahrungen beruht. Erst bei außergewöhnlichen Situationen oder drastischen Verhaltensänderungen ist wohl eine bewußte Entscheidung im Spiel, welche also die bewußt zugänglichen Teile der Erinnerung verwendet. Erfahrungen werden offenbar recht klassisch abgespeichert, die Prozesse im Gehirn laufen recht klassisch ab, es sind also so viele Teilchen beteiligt, daß das Verhalten im Prinzip in sehr guter Näherung deterministisch ist. Für einen freien Willen gibt es da keine Anhaltspunkte, weder global über das allgemein anwendbare physikalische Modell, noch lokal über die im Detail ablaufenden chemischen Prozesse. Und was im Gehirn passiert, passiert natürlich immer innerhalb der physikalischen Rahmenbedingungen, es gibt im Gehirn nichts, was davon unabhängig wäre. Es gibt also insbesondere keine Information außerhalb der physikalischen Rahmenbedingungen, nichts jenseits der bekannten Wechselwirkungen, also auch keine von dem dynamischen Prozeß im Gehirn unabhängige Seele. Was man unter diesem Begriff verstehen kann, ist identisch mit dem Ich, welches durch elektromagnetisch-chemische Prozesse im Gehirn entsteht und nicht unabhängig davon existiert. Endet der Prozeß als organisiert-zielgerichteter Ablauf im Gehirn, ist man also tot, so gibt es auch kein Ich mehr. Es ist bislang keine technische oder sonstige Methode verfügbar, um den dynamischen Prozeß Ich des Gehirns in ein anderes Speichermedium zu übertragen und es dort wieder zum Funktionieren zu bringen. Aufgrund der Komplexität des Gehirns und der Abläufe und der letztlich quantenphysikalischen Grundlagen ist es auch unwahrscheinlich, daß man kurzfristig etwas entwickeln wird, was das Ich aus einem Gehirn extrahiert und als Sicherheitskopie speichert oder gar in ein anderes Gehirn oder gar anderes Konstrukt einsetzt und es dann wieder sein Ich-Bewußtsein dort fortsetzt. Da allerdings die Speicherung und die Prozesse auch im Gehirn eher klassische sein werden, ähnlich wie bei Speichermedien und Prozeß-Einheiten in der Rechner-Technik, ist es vermutlich prinzipiell möglich, zu kopieren, wobei die Kopie ein Ich fortsetzen kann, ohne aber es notwendig in gleicher Weise fortzusetzen, wie es das Original tut oder getan hätte, wenn es den Extraktionsprozeß nicht gegeben hätte.

Von daher ist das, was man als Ich wahrnimmt, als freier Wille also, eine ebenso drollige wie geniale Selbsttäuschung des weit entwickelten Gehirns, welches dieses Ich gut gebrauchen kann, um flexibel zu agieren. Einfachere Tiere brauchen das nicht. Aber es gibt einige Tiere mit ähnlich weit entwickelten Gehirnen, die ebenfalls über ein Ich verfügen, die also bewußt über sich selbst reflektieren können und sich selbst separiert von der Umwelt erkennen können.

Nun gibt es von Arthur Schopenhauer (1788/1860) die bekannte Aussage "Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will."

Nun, klar, das Denken und damit auch die Wünsche und der Wille sind mehr oder weniger durch frühere Erfahrungen vorgegeben, man entscheidet also nicht frei darüber, was einen motiviert, etwas zu wünschen oder zu wollen. Die Ursachen dafür sind komplex, basierend auf einer massiven Wechselwirkung mit der Umwelt, aber natürlich auch der im Gehirn vorgehenden Prozesse. Das bewußte Ich kann nicht beliebig tief in Schichten des ihn bestimmenden Gehirns vordringen, um die eigenen Motivationen zu erforschen, geschweige denn durch einen bewußten Gedankengang beliebig zu ändern. Der Wunsch zur Änderung ist ja selbst wieder Bestandteil dieses sich selbst beschreibenden, über sich selbst reflektierenden Systems. Um nicht notwendig selbstwidersprüchlich zu sein, muß das System in seinen Argumentationsebenen und Wahrnehmungs- und Verständnisebenen beschränkt sein. Das Ich muß allenfalls im Sinne einer objektivierten Sicht den Erkenntnisprozeß auslagern und entindividualisieren, um die Prozesse im Gehirn zu untersuchen und zu verstehen, ohne dabei allerdings zu dem vorzudringen, was gerade im eigenen Gehirn vorgeht und darüber frei zu entscheiden.

Allerdings trifft natürlich nicht einmal der erste Teil der Aussage zu, niemand kann tun, was er will. Zum einen gibt es soziale Schranken - man kann es sich nicht leisten, zu tun was man will, man ist psychologisch oder moralisch gehemmt, zu tun, was man will.
Dann gibt es technische Schranken - man kann jetzt nicht tun, wozu man jetzt nicht die technischen Möglichkeiten hat - prinzipiell kann man persönlich zum Mond fliegen, aber es kann niemand jetzt und ohne Vorbereitung und breite Unterstützung in der Bevölkerung tun. Man schafft es also nicht allein aus dem persönlichen Wollen heraus.
Zum anderen und vor allem gibt es schlicht nicht umgehbare physikalische Schranken. Wie erläutert, sind die Modelle des Gehirns vereinfachte Bilder der Welt, Illusion darüber, sie treffen nicht zu. Was immer der Mensch über die Welt denkt, was er sich vorstellt, wie sie funktioniert, ist also bei genauer Betrachtung immer falsch. Es ist also vollkommen normal, daß sich der Mensch unzutreffende Vorstellungen von der Welt macht, daher ist es auch gar kein Problem, daß er Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse formulieren kann, die physikalisch gar nicht realisierbar sind.
In diesem Sinne kann der Mensch natürlich nicht tun was er will, es ist gar kein Problem etwas zu wollen, was man nicht tun kann, eben weil es physikalisch gar nicht möglich ist, aber im Gehirn sehr wohl vorstellbar.

All das ändert natürlich nichts daran, daß das vom Gehirn erfundene Ich ganz eindeutig den Eindruck hat, freie Entscheidungen zu treffen, einen wenn auch manipulierbaren, aber doch im wesentlichen freien Willen zu haben. Natürlich ist diesem Ich gar nicht bewußt, wie es funktioniert und was das Gehirn phantastisches leisten muß, damit das Ich denkt und sich ganz sicher ist, einen freien Willen zu haben. Und dieses von seinem eigenen Gehirn so arg hinters Licht geführte Ich ist sogar in der Lage, sehr komplexe Gedanken zu formulieren, mit anderen Ichs zu kommunizieren und so sehr komplexe sowohl soziale als auch technische Konstruktionen zu realisieren, um in dieser Welt zurecht zu kommen.
Ja, dieses Ich kann letztlich sogar mit all diesen Konstruktionen und Kooperationen hinaus auf die Welt schauen und sich ein realistisches Bild von der Welt machen, und dann sogar auch vom eigenen Gehirn und vom Ich selbst und ist intellektuell gar in der Lage, sich selbst als Selbsttäuschung zu identifizieren und im gleichen Gedankengang doch der tiefen Überzeugung zu sein, Ich zu sein - was schon ziemlich genial ist, insbesondere wenn man davon ausgehen kann, daß das nicht nur in meinem Gehirn, meinem Ich möglich ist, sondern in beinahe jedem menschlichen Gehirn, welches mehr oder weniger durchschnittlich funktioniert.