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Dr. O. Hoffmann

Physik und Gesellschaft

Viele begründen ihr Interesse an der Physik mit der schon von Goethe aufgeworfenen Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Nun, aus der Sicht des Experimentalphysikers ist die Antwort ebenso pragmatisch wie desillusionierend: Physikalische Theorien waren bislang immer falsch, wenn es nur gelungen ist, genau genug zu messen.
Es ist prinzipiell nicht möglich, mit Bestimmtheit in Erfahrung zu bringen, was die Welt im Innersten zusammenhält, da die experimentelle Überprüfbarkeit immer nur von endlicher Genauigkeit sein kann. Praktisch ist das aber überhaupt nicht schlimm, denn um gezielt in unserer Welt agieren zu können, reicht ein approximatives Bild von der Welt, wie physikalische Methoden es zu liefern vermögen.

Immer wieder gern diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch die Frage des Fortschritts der Erkenntnis. Von einigen Menschen wird behauptet, durch verbesserte Modelle und Theorien und genauere Messungen nähere man sich immer weiter der Realität oder Wahrheit an. Das ist allerdings eine reichlich märchenhafte Vorstellung, die nicht viel mit Physik zu tun hat. Eine 'Annäherung' impliziert ja gerade physikalische Begriffe wie eine meßbare Abstandsänderung. Tatsächlich hat aber noch niemand, der diese etwas naive Anschauung präsentiert, ein Abstandsmaß im 'Wahrheitsraum' definiert, mit welcher man den Abstand zwischen zwei Modellen hätten messen können. Zwar gibt man zusammen mit Messungen und im Idealfalle auch bei Modellen ebenfalls Fehlerbetrachtungen an, aussagekräftige, relevante Meßpunkte haben etwa immer Fehlerbalken, mit denen man die Unsicherheit der Messung beurteilen kann. In diesem Maßstab kann man natürlich einen Abstand etwa zu einem Wert angeben, der nach einem Modell berechnet wurde, sogar eine Fehlerrechnung zur Beurteilung der Unsicherheit kann man angeben. Das ist aber noch lange kein Maß dafür, wie weit ein Modell von einer hypothetischen 'Wahrheit' entfernt ist. Was hier betrachtet wird, sind eben nur Meßgrößen, die innerhalb eines Modelles eine Bedeutung haben. Sie können gegebenenfalls helfen, das Modell als falsch zu widerlegen, aber nicht, um es zu beweisen. Ein ganz anderes Modell könnte ja eine deutlich andere Beschreibung liefern, andere Meßgrößen oder eine andere Interpretation, womit man dann ähnliche Genauigkeiten in der Übereinstimmung von Messung und Modell erzielen könnte.
Tatsächlich hat die Physik einige alternative Beschreibungen für die gleichen Phänomene. Man versucht dann natürlich, Meßgrößen zu finden und zu vermessen, um gegebenenfalls Modelle als falsch auszuschließen. Alternativ gelingt es manchmal, per Rechnung zu zeigen, daß vermeintlich verschiedene Beschreibungen für das gleiche Phänomen mathematisch letztlich gleich sind.
Insgesamt sollte man sich darauf beschränken zu sagen, Modelle versuchen, Messungen möglichst genau zu beschreiben und Meßgrößen zu formulieren, anhand derer sie gegebenenfalls widerlegt werden können. Das schließt alles nicht aus, daß die Modelle selbst geprägt sind durch die eingeschränkten geistigen Möglichkeiten des menschlichen Verstandes, sie könnten dadurch geprägt sein, was wir im Alltag erleben und auch durch Geschichten, die uns von anderen Menschen erzählt wurden, etwa oder insbesondere sogar durch religiöse und weltanschauliche Vorstellungen. Haltbar sind solche Vorstellungen dann allerdings nur so lange, wie man anhand von Meßgrößen, die man damit formuliert hat, keine Meßergebnisse hat, die solche Vorstellungen einfach widerlegen. Aber auch Vorstellungen und Modelle, die sich nicht so einfach widerlegen lassen, können natürlich trotzdem aus einer typisch menschlich-subjektiven Sicht der Dinge entstanden sein - vielleicht sehen es irgendwelche Außerirdische ganz anders, weil sie andere Erfahrungen und Vorstellungen haben und ihnen eröffnet sich damit ein anderer Zugang zur Physik, der vielleicht einige neue Erkenntnisse ermöglichen mag, andere aber auch verhindern oder erschweren könnte.
In diesem Sinne ist unser naturwissenschaftliches Bild von der Welt nicht wahr und es nähert sich einer potentiellen Wahrheit nicht immer weiter an. Es paßt nur gut zu den Beobachtungen und Messungen. Und wo es nicht gut paßt, besteht Bedarf, Notwendigkeit und Motivation, die Modelle an die Beobachtungen und Messungen besser anzupassen. Dahinter steckt aber mehr praktische, fleißige Arbeit und Kreativität als der Zugang zu einer tiefsinnigen Wahrheit über die Welt.

Unser Weltbild, die Grundlagen unserer heutigen Gesellschaft basieren auf physikalischen Theorien, die unsere Umwelt so genau wiedergeben, wie wir das brauchen. Geforscht und experimentiert wird an jenen Stellen, wo wir ein besseres Bild brauchen, als wir es derzeit haben. Oder - was noch noch relevanter für die Zukunft ist - wo neue Grundlagen für die nächsten Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte gelegt werden können. Quasi als Nebenprodukte physikalischer Experimentierkunst sind so wichtige Technologien entstanden, die unsere heutige Welt bestimmen, die heutigen und morgigen Erkenntnisse und neuen Grundlagen unseres Wissens werden die Techniken der Zukunft ermöglichen. Neue physikalische Theorien werden die Phantasien beflügeln, was einmal möglich sein wird und wie neue Weltbilder einmal aussehen werden.

Für reine Philosophie bleibt da im Grunde kaum Platz. Physik ist die Fortsetzung der Philosophie mit erfolgreichen Mitteln - zumindest was unser Bild von der Welt anbelangt. Das physikalische Weltbild beeinflußt die Philosophie und diese wiederum hat vielleicht als wichtigste Aufgabe, den physikalischen Erkenntnisprozeß immer wieder zu durchleuchten, Dogmatisierung, Verkrustung und Legendenbildung zu hinterfragen und zu untergraben und den rein pragmatischen Aspekt dieses Weltbildes herauszustellen, um zu vermeiden, daß darin Wahrheiten gesucht werden, die es im physikalischen Ansatz nicht geben kann.
Physikalisches Grundverständnis ist Voraussetzung, um in unserer durch Naturwissenschaften und Technik dominierten Welt überhaupt noch kompetent mitreden zu können.
Da solche Kompetenz in der Allgemeinheit kaum vorhanden ist, ist es kein Wunder, wie schlecht der gesellschaftliche Alltag organisiert ist und welch fragwürdige gesellschaftliche Entscheidungen getroffen werden. Denn wer nichts über die Welt weiß, in der er lebt, kann darin auch nicht gezielt zum Nutzen der Gemeinschaft agieren.