Einst lebte in einem kleinen Koenigreich an der Kueste eine junge Prinzessin von so grossem Liebreiz, dass ihr die edlen Recken des Landes und die Prinzen des ganzen Kontinents reihenweise zu Fuessen lagen (wie sollte es auch anders sein in einer solchen Geschichte).
Auch der juengere Prinz des Nachbarreiches war ihr sehr zugetan, und auch sie war begeistert von dem Glanz und der Ausstrahlung und seiner stolzen Gestalt. Wie haette sie nein sagen koennen, als er daher ritt auf seinem weissen Ross und mit praechtigem Gewand und strahlendem Laecheln und sie fragte. Sie schworen sich ewige Liebe, was auch immer geschehen moege, und nach der Verlobung schien ihr Leben eine einzige rauschende Ballnacht zu sein. Sie war gluecklicher als je eine Prinzessin gewesen war. Der Hochzeitstermin war schon festgesetzt.
Doch als die duestere Zeit in ihrem Leben begann, war ihr Prinz nicht an ihrer Seite. Stattdessen war er fern in der Heimat, um einen wichtigen Empfang auszurichten. Dann kam alles anders. Ein durch ihre Verbindung mit dem Prinzen finster und intrigant gewordener Verehrer - ein Ritter aus einem Hause mit hohem Ansehen in ihrem Reich - plante den Umsturz.
Der finstere Ritter hatte schon die Koenigsfamilie in der Hand, wobei bereits die Koenigin ums Leben kam und der Koenig nach einem Herzanfall dem Tode nahe war. Da gelang es dem weisen Kanzler des Reiches, den Umsturz abzuwenden und die Truppen des finsteren Ritters zurueckzuschlagen. Dieser aber hatte die Koenigsfamilie entfuehrt, die Retter hetzen hinter der Kutsche her, schon kam es zum Kampf, als es in rasender Fahrt auf eine Bruecke ueber ein tiefes Tal zuging. Ein verirrter Pfeil traf den Kutscher, der vom Bock auf die wild galoppierenden Roesser rutschte, die daraufhin erschreckt durchgingen. Die Kutsche schleuderte, brach zur Seite aus, prallte gegen das Gelaender, welches splitterte. Die Kutsche schoss in hohem Bogen von der Bruecke auf die Talwand zu und zerschellte mit einem furchtbaren Splittern an der Wand - noch sah die Prinzessin ein irres Gewirr der Truemmer und ihrer Geschwister, dann wurde sie hinausgeschleudert und wurde ohnmaechtig.
Der Umsturz war niedergeschlagen, doch die Prinzessin war die einzige Ueberlebende der Koenigsfamilie. Aber als sie nach langer Zeit wieder erwachte, war alles anders: sie sprach nicht mehr, schien nicht mehr zu hoeren. Selbst als ihr Verlobter zu ihr sprach, reagierte sie nicht. Sie sah so schlimm zugerichtet aus, dass ihr Prinz sich auch noch von ihr abwandte. Vielleicht war das der schlimmste Schlag fuer die Prinzessin...
Die kommenden Jahre erholte sie sich koerperlich vollstaendig, bis auf ihre Stummheit und Taubheit und ein leichtes Nachziehen des rechten Beines. Aber sie lebte jetzt voellig zurueckgezogen und gedankenverloren in ihrer Welt. Sie kleidete sich sehr einfach und schlicht. An ihrer Erscheinung erinnerte nichts mehr an den Glanz und die Macht von frueher. Der weise Kanzler regierte fuer sie das Land. Weil das Koenigreich an der Kueste lag, war es mit seiner Hauptstadt als wichtiger Handelshafen sehr begehrt. Doch bei allen Bewerbern um ihre Gunst hatte die Prinzessin immer das Gefuehl, es gehe immer nur um die Macht. Sie zog sich immer mehr zurueck in ihre Einsamkeit. Ihr Blick auf die feine Gesellschaft wurde kalt und gleichgueltig. Ironisch liess sie verkuenden, sie nehme den zum Mann, der sie von ihrer Stummheit und Taubheit befreien koenne, um ihre Ruhe zu haben.
Mitte zwanzig war die Prinzessin, als der aeltere Prinz des Nachbarreiches zu seiner Hochzeit einlud. Der weise Kanzler redete lange auf die Prinzessin ein (die inzwischen von den Lippen lesen konnte), bis sie wirklich zu jener Feier aufbrachen. Das Fest war fuer sie nur schwer zu ertragen. Natuerlich war auch ihr ehemaliger Verlobter dort und amuesierte sich mit den Schoenen der Gesellschaft. Zurueckgezogen in eine Ecke beobachtete sie in ihrer eigenen Stille das bunte Treiben. Dann sah er sie wieder, spuerte, sie war eigentlich noch viel schoener und begehrenswerter als damals und in ihm war die alte Sehnsucht nach ihr wieder geweckt. So kam er auf sie zu, und in ihrem Innersten schmerzten die alten Gefuehle so sehr, dass sie fortlaufen wollte. Er stand nur schweigend vor ihr. Ihre Augen trafen sich. Aber was sollte der Prinz mit einer stummen und tauben Frau, schoss es durch seinen Kopf, und der Augenblick war vorbei. Er nickte nur kurz und ging weiter. Sie aber schien zu ersticken, huellte sich in einen Umhang einer ihrer Dienerinnen und eilte hinaus in die Nacht, in die Stadt, so schnell, dass ihr niemand folgen konnte. Sie irrte durch die Strassen, fast besinnungslos. In ihrem Kopf schienen nun ihre Gedanken immer engere Kreise zu ziehen, es gab keine Aussenwelt mehr fuer sie.
Bis mit einem Male Pferde vor ihr aufbaeumten, eine Kutsche schlingerte. Eine Hand riss sie aus dem Weg der Pferde, weg vom sicheren Tod, doch nicht ganz weit genug. Die Kutsche streifte sie, wirbelte sie herum, schmetterte sie mit dem Retter gegen eine Wand in eine dunkle Ecke. Die Kutsche hielt nicht einmal, nur das Fluchen des Kutschers hallte noch kurz durch die Strassen.
Erst spaeter erwachte sie mit schlimmen Kopfschmerzen im Daemmerlicht auf einem schmalen Bett. Ein Mann, der etwas aelter als sie war, legte einen kalten Lappen auf eine Beule an ihrem Kopf. Als er sah, dass sie erwacht war, sprach er sie an, doch sie konnte ja nichts hoeren und im Daemmerlicht auch nicht von seinen Lippen lesen. Sie gestikulierte, dann verstand er ploetzlich. Ganz aufgeregt durch die Begegnung mit dem Prinzen und den Zusammenstoss mit der Kutsche hatte sie sich bereits aufgerichtet und wollte los. Dieser Mann laechelte sie jedoch ganz offen und freundlich an und beruhigte sie. Sie schaute sich um und sah in dem Raum ausser Bett, Tisch, Stuhl und Schrank noch Regale mit Buechern und einen Schreibtisch. Die ruhige Art des Fremden tat ihr gut und floesste ihr Vertrauen ein. Als sich ihre Blicke trafen fuehlte sie sich ganz sicher und geborgen, ohne eigentlich einen Grund dafuer zu haben. Er nahm sie an der Hand und fuehrte sie Treppen hinauf. Vielleicht hatte er doch etwas missverstanden, aber aus irgendeinem Grunde folgte sie ihm diesen Turm hinauf. Oben angekommen wies der Mann auf Glocken und dann auf die Ohren. Irgendwie machte er ihr klar, dass er der Gloeckner war und ihr ein Geschenk machen wollte. Mit einer kurzen Geste erklaerte sie sich einverstanden und war gespannt, was nun passieren wuerde. Der Gloeckner aber kletterte hinauf zur grossen Glocke (nachdem er sich mit einer schnellen routinierten Bewegung Watte in die Ohren gestopft hatte).
Sie traute ihren Augen kaum: in schwindeliger Hoehe sprang der Gloeckner einfach zur Glocke hinueber, hielt sich mit blossen Haenden an ihr fest und schwang sich mit ihr hin und her. Geschickt den richtigen Rhythmus findend bewegte er die Glocke immer heftiger. Dann schlug das erste Mal der Kloeppel gegen die Glocke, dann nochmal, dann regelmaessig. Der ganze Turm erbebte. Der Bewegungen des Gloeckners waren eins mit dem Rhythmus der Glocke, der ganze Turm vibrierte beinahe in Resonanz mit der Glocke. Sie spuerte den Schlag der maechtigen Glocke und den bebenden Turm und sah den wilden Blick des Gloeckners auf sich ruhen, sich nun in ein glueckliches Laecheln verwandelnd, waehrend er mit immer mehr Schwung mit der Glocke hin und her schwang, aber sein Blick ruhig in ihren Augen ruhte.
Mit einem Male wurde ihr bewusst, dass sie die Glocke hoeren konnte! Mit jedem Schlag mehr schien ihr Kopf zu bersten. Mit aller Kraft schrie sie auf! Sie taumelte wie betaeubt zurueck, sich noch an einem Pfeiler haltend, auch dort die Vibrationen des gesamten Turmes spuerend. Ihr schwinden erneut die Sinne. Gerade als sie schon fiel, sah sie noch, wie der Gloeckner geschickt zu ihr heruntersprang und sie mit schnellem Griff in seinen Armen auffing. Er hielt sie sicher und fest.
Als sie erneut erwachte, war sie im Palast. Und da sah sie als sie die Augen aufschlug die besorgten Blicke des Kanzlers, des Koenigs und! des Prinzen auf ihr ruhen. Sie konnte sie hoeren und konnte sprechen, und da war die Freude gross, dass die Prinzessin wieder gesund war. Der Prinz hielt ihre Hand und wieder trafen sich ihre Augen und einen Moment war es wie frueher. Da schoss ihr der Gedanke an den Gloeckner durch den Kopf, dem sie so viel zu verdanken hatte, und sie fragte nach ihm. Und sie erinnerte sich an ihren Schwur, den zum Manne zu nehmen, der sie wieder hoeren und sprechen lasse. Man erzaehlte ihr, man habe den Unhold in den Kerker geworfen, nachdem man durch das unplanmaessige Laeuten mit der zudem sonst nie benutzten Glocke aufmerksam geworden sei und sie bei dem Gloeckner entdeckt habe, der sie auf den Gloeckenturm entfuehrt habe.
Sie war hin und her gerissen zwischen ihren Gefuehlen fuer den Prinzen und ihrem Wort. Sie hatte nur kurze Zeit bei dem Gloeckner verbracht, doch das hatte einen tiefen Eindruck hinterlassen. Sie war sich sicher, wenn es die alten Gefuehle fuer den Prinzen nicht gaebe, sie koennte keinen besseren Gefaehrten als den Gloeckner finden. Sie hatte diese Ruhe und Geborgenheit in seiner Naehe in sich aufgenommen und so genossen, sie hatte sich verstanden gefuehlt, auch ohne Worte, nur mit Blicken und Gesten. Es war, als ob sie zuhause angekommen sei. Sie klaerte das Missverstaendnis mit der Entfuehrung auf, und es wurde nach dem rehabilitierten Gloeckner geschickt. Auf dem Weg hatte sein redseeliger Fuehrer ihm vom Schwur der Prinzessin erzaehlt, der in der hohen Gesellschaft weit bekannt geworden war.
So stand er dann da vor der Prinzessin und dem Kanzler, dem Koenig, dem Prinzen, und alle waren sie verlegen. Noch immer hielt der Prinz die Hand der Prinzessin und sie die seine. Beim Erscheinen des Gloeckners ist sein Griff merklich fester geworden. Sie schaute den Gloeckner an und schien zu ersticken, erneut schienen ihr die Sinne zu schwinden in dieser schwierigen Situation, als sich ihre Augen wieder wortlos trafen. Die hohen Herren fluesterten miteinander. Nachdem die Prinzessin schliesslich doch ein paar Worte des Dankes mit grosser Anstrengung und Sorgfalt formuliert hatte, trat der Koenig auf den Gloeckner zu. Mit feierlichen Worten wurde der Gloeckner zum Prinzen ehrenhalber ernannt, mit der Verpflichtung zur Repraesentation, waehrend das Koenigshaus sich verpflichtete, die Repraesentation durch Wohnung, Ausstattung und weitere Sach- und Geldmittel in angemessenem Umfang zu ermoeglichen. Wie einen verlorenen Sohn nahm der Koenig den Gloeckner in die Arme und auch der Prinz hiess ihn als ehrenhalben Bruder feierlich in der Familie willkommen. Der weise Kanzler betrachtete das alles sehr nachdenklich und gratulierte dem Gloeckner zu seinem neuen Amt. Dieser dankte.
Die Prinzessin wollte nun mit ihrem Retter alleine sprechen, doch der Prinz bat sie zunaechst um eine Unterredung mit ihm. Er spuerte, dass er nun etwas unternehmen muesse, um die Dinge in seinem Sinne ablaufen zu lassen. Egal wie er sich nachher wirklich entscheiden werde, ueberlegte er, jetzt muesse erst einmal eine kritische Situation abgewendet werden. Zoegernd willigte die Prinzessin in die Unterredung ein, alle anderen wurden gebeten, den Raum zu verlassen. Dann allein mit ihr fasste sich der Prinz ein Herz und bekannte sich zu seiner neu entbrannten Leidenschaft und seinem Verlangen, hielt erneut um ihre Hand an. Er redete auf sie ein, sie koenne nicht ernsthaft einen Gloeckner nehmen. So lange bedraengte er sie, bis sie nichts mehr sagen konnte und ueberredet und einverstanden war.
Dann ging der Prinz hinaus aus dem Zimmer und sprach draussen allein mit seinem neuen ehrenhalben Bruder, erklaerte ihm die Situation und die Entscheidung der Prinzessin. Daraufhin wurde der Gloeckner zur Prinzessin gebeten. Sie entschuldigte sich bei ihm fuer ihr dummes oeffentliches Versprechen, dass sie im Grunde nie Ernst genommen habe, erzaehlte ihm die ganze Geschichte aus ihrer Sicht. Der Gloeckner sprach dann, er habe ihr nicht geholfen, weil sie ein Versprechen gegeben habe. Er habe sie gerettet als sie Hilfe gebraucht habe und habe ihr ein Geschenk gemacht, weil er sie mochte. Er habe kein Interesse an ihr gehabt, nur weil sie eine Prinzessin sei. Er habe einer Magd in grosser Not geholfen, habe sie gehalten, in ihre Augen geschaut. Diese Magd habe sein Interesse geweckt, die so ernst aber doch freundlich und gut gewesen sei, deren Zuneigung er gespuert zu haben meinte. Er wisse nicht, zu was es haette fuehren koennen, wenn sie eine Magd geblieben waere, sehr gern haette er sie besser kennengelernt, aber das seien nun alles hypothetische Gedanken. Und was passiere, haenge ebenso an ihr wie an ihm, ihr leichtsinniger Ausspruch sei da voellig egal. Allerdings - wenn sie ihm die Bemerkung gestatte - empfehle er ihr jedoch, bezueglich des Prinzen erst einmal in aller Ruhe eine eigene Entscheidung zu faellen, nachdem, was er jetzt ueber den Prinzen und sie erfahren habe. Wenn sie aber erlaube, werde er sich nun in seinen Turm zurueckziehen, denn es sei laengst Zeit, die Glocken zu laeuten. Als der Prinz und der Gloeckner habe er nun zwei Aemter auszufuellen, er wolle nicht laenger saeumen, seine Pflicht zu erfuellen...
Wortlos - nur mit einer hilflosen Geste - liess sie ihn gehen. Sie hatte Traenen in den Augen und war ratlos. Er hatte ja Recht, aber da waren auch die Gefuehle fuer den Prinzen, die sie immer noch in sich spuerte trotz der grossen Enttaeuschung, die er ihr zugefuegt hatte, trotz seiner Unzuverlaessigkeit. Aber da waren auch die Gefuehle fuer diesen Gloeckner, der wahrlich bereits einen Prinzen ganz anderer Art repraesentierte...
Was sollte sie nun tun?
Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute. Doch ob sie wirklich gluecklich geworden ist, wer kann das sagen?
Was aber ist die Lehre fuer den Leser?
Oft bekommt man fuer eine besondere Leistung statt der ausgesetzten Belohnung einen Titel ehrenhalber, den andere auch ganz ohne Leistung erhalten haben.
Was ist die Lehre fuer den Prinzen?
Oft muss man nur als praechtiger Prinz mit strahlendem Laecheln, gewandtem Auftreten, weissem Ross und suessesten Worten daherkommen, um eine Prinzessin zu gewinnen und auszunutzen.
Was ist die Lehre fuer die Prinzessin?
Es muss alles zusammen passen. Um einen Prinzen zu gewinnen, muss man die richtige Erscheinung haben, um einen Gloeckner zu gewinnen, muss man seine Hilfe brauchen...
Was ist die Lehre fuer den Gloeckner?
Unter dem Mantel einer einfachen netten Magd kann auch eine komplizierte Prinzessin stecken.
Erhaelt man fuer eine gute Tat oder eine besondere Leistung statt des nicht geforderten aber zugesagten Lohnes einen Titel, nimmt man ihn dankend an und kuemmert sich weiter um seine eigenen Sachen...